Matthias Langer


Der Schmetterling im Trockendock

1» Ein Gebäude ist am Entstehen, es wird gebaut. Mit dem Baubeginn ist das Haus bereits fertig gewesen. Es ist nur noch nicht zu sehen. Es steht noch nicht, es entsteht. Die äußere Hülle ist nicht sichtbar, aber das Dach ist bereits abgesteckt. Der Bau beginnt mit dem Dach. Es gibt die Grundform des Hauses vor. Das Dach ist sein Fundament. Es ist Bauch und Rücken, Unten und Oben. Dieses Gebäude ist Teil und Vielfaches zugleich. Eine Scheibe scheint aus der Mitte herausgeschnitten. Sie schwebt zwischen dem Dach und seinem Schatten auf dem Boden, zu dem sie sonst keinen Kontakt hat. Der Schatten markiert die Grundfläche. Das Gebäude streckt die Fühler in diese Richtung, um den Grund nicht aus den Augen zu verlieren.

2» Ich gehe durch den Raum, der wie ein Zirkuszelt auf dem Grundriß aufgespannt wurde. Er ist der Raum unter dem Gebäude und der Raum in dem Gebäude. Er hat noch keine klaren Grenzen, er bekommt noch seine Form. Er hat noch keine feste Gestalt angenommen. An ihm wird noch gegossen, gefeilt und geformt. Stangen stützen ihn, geben ihm Halt und Schutz. Stangen füllen den Raum, sie versperren den Weg, füllen den Freiraum, negieren ihn. Ich bin in dem Wirrwarr ohne Orientierung. Ich suche den Horizont, um Halt zu finden. Er verbirgt sich hinter jeder Biegung. Er ist nicht mehr horizontal, er wurde in die Vertikale gedreht und gewendet. Der vertikale Horizont leitet mich, er wird zum Steg, auf dem ich wandeln kann. Und er wird eine Lehne zum Entspannen. Der Horizont ist keine Grenze mehr zwischen Oben und Unten, sondern er ist der Weg zwischen Hier und Da. Er führt mich durch das Geflecht aus senkrechten Stützen, waagerechten Streben und diagonalen Stangen. So finde ich den Weg durch diesen Irrgarten. Manchmal scheint sich das Gebäude in einer Schonung aus jungen Bäumen zu verstecken, ein anderes Mal gibt es vor, das Trockendock einer Werft zu sein. Das Labyrinth verändert sich ständig, so wie das Bauwerk, das sich in seinem Inneren entwickelt. Das Labyrinth ist gleich einem Kokon, in dem etwas heranwächst.

3» Noch versteckt sich das Bauwerk. Es hat sich eingesponnen. Die Larve trägt noch eine Maske. Ihr Entwicklungsstadium ist von außen nicht erkennbar. Verwoben in einem Gewirr aus Stangen und Stützen ist es umhüllt und geschützt. Im Moment ist die Larve der Schatz, den die Hecke aus Eisenstangen behütet. Später wird das Gebäude seinen eigenen Schatz besitzen und ihn bewahren. Aber noch ist die Larve, die später einmal ein Haus sein wird, auf Schutz von außen angewiesen. Von Zeit zu Zeit nimmt sie ihre Maske ab, entlarvt sich und läßt ihre wahre Erscheinung erahnen. Dann kann man die Formen sehen, die das Gebäude beschreiben. Das Geformte wird erahnbar, man erkennt einen Bug und die Flügel. In einiger Zeit wird es ausgewachsen sein und seine endgültige Erscheinung angenommen haben. Das Stadium des Verpuppt-Seins wird vorbei sein und der Schmetterling braucht das stützende Korsett nicht mehr. Die Wandlung wird vollzogen sein, er wird sein Inneres nach außen gekehrt haben. Das Innere ist jetzt Außen und ein neues Innen ist entstanden. Der Schmetterling kann das Trockendock verlassen.

4» Das Trockendock wird geflutet, und die Wellen schwappen von unten gegen den Bug des Schmetterlings, streicheln ihn, heben ihn an. Der Schmetterling läuft vom Stapel, schwebt über dem Boden. Er zeigt sein wahres Gesicht. Er offenbart ein Gefüge aus Formen, die das Gebäude bilden. In dessen Mitte steht ein Herd. Er bildet das Zentrum, in dem sich alle Wege treffen. Der Herd ist der Ort, an dem alle Linien zusammenlaufen, um anschließend auseinanderzustreben. Er ist Sammelpunkt und Ausgangspunkt gleichermßen: Er ist der Brennpunkt, der Focus. Seine Wärme gibt Geborgenheit, bietet Schutz gegen die Kälte. Speisen werden zubereitet, bewahren uns vor Erschöpfung. Ein Trank wird auf ihm gebraut, der einmal getrunken durch die Adern fließt und unser Leben bewahrt. Der Herd ist der Hort, der Schatz des Hauses. Er lagert heimlich in dem Gebäude und belebt es, ist nicht für jedermann zu sehen.

5» Er wird von der Hülle bewacht, beschützt und verborgen. Das Bauwerk beginnt in der Mitte, am Herd, und endet bei den Wänden, den Flügeln, die der Schmetterling schützend ausbreitet. Und es wird vom Dach abgeschlossen, mit dem der Bau begonnen hat, und das sein Inneres behütet. Die Flügel bieten Platz für eine Bühne, schirmen einen Theaterspielplatz ab. Hier kann jeder aus seiner eigenen in eine andere Rolle schlüpfen. Auf den Brettern der Bühne wird der nächste Akt gespielt. Man kann sich hinter einer anderen Rolle, einem anderen Gesicht, verstecken, in einen Kokon schlüpfen oder eine Maske aufsetzen. Auf der Bühne, auf der Plattform kann man sich frei und schrankenlos bewegen, wird schon von weitem gesehen, ohne erkannt zu werden. Der Schmetterling spielt dabei die tragende, die gewichtige Rolle. Alles spielt sich unter seinem Dach ab.

»Der Schmetterling im Trockendock« realisiert als raumbezogene Arbeit im Kunstmuseum Wolfsburg anläßlich der Ausstellung »PHÆNOgraphie«